Vom Auftauchen und Verschwinden

Völker, hört die Signale! Einige persönliche Bemerkungen zum Schluss (oder zum guten Ende …)

Ich höre sehr gerne Musik aus der Gegenwart, aus dem 20. und 21. Jahrhundert, aus meiner Zeit und aus der symphonischen Tradition. Klassik und Barock höre ich genauso gerne im Konzertsaal wie Jazz im Club, aber beide nicht so oft und mit einer anderen Haltung, mit einem eher historischen Interesse. Was ich auch sehr gerne höre, ist vorbürgerliche Musik, Musik aus dem Mittelalter und der Renaissance – eine Musik, die mich emotional genauso stark berührt wie die aktuelle, zeitgenössische. Es gibt eine Ausnahme in meinen Vorlieben – und vielleicht ist es keine Ausnahme und leicht erklärbar – und die bezieht sich auf Anton Bruckner (1824-1896) und Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975); beide falsch verstanden, beide geschmäht und verehrt, beide Solitaire unserer Musik.

Reaktionär-visionär der eine (hört euch unbedingt die 9. Symphonie des Ansfeldners an!) und revolutionär-bodenständig der andere aus St. Petersburg (die 12. Symphonie, die für Lenin, zeigt ganz deutlich die Verbindung zu Bruckner, den Schostakowitsch verehrte, und Bruckner hat die 8. dem Kaiser Franz Joseph gewidmet und die 9. dem Lieben Gott), beide sind im 20. Jahrhundert verankert. Bruckner hat, ohne es zu ahnen, geschweige denn es zu begreifen, die Barbarei des erwachsenden Industriezeitalters in seiner Musik ausgedrückt. Und die Barbarei der minimal music hat er im grandiosen scherzo der 9. Symphonie vorweggenommen; Barbarei beziehe ich auf die inhaltliche Armut bei formaler Perfektion. Schostakowitsch hat mit dieser Barbarei schon zu kämpfen gehabt insofern, als sie verordnet wurde. Er hat sie mit Souveränität gemeistert und überschritten.

Aber was mir bei Musik am Wichtigsten ist, ist beim Zuhören die Verbindung aus Berührtwerden durch die Schönheit und Klarheit der Kompositionen oder der Improvisationen und durch das gleichzeitige Erkennen der Elemente der Komposition oder Improvisation; Improvisation, die ich auch für eine Art der Komposition halte (und die es wohl ist), die mehr oder weniger spontan vonstatten geht (und im klassischen Ausbildungsprogramm als Variation oder Fantasie gelehrt wurde; Giacinto Scelsi [1905-1988] hat eine, auch soziale und kooperative, Form dafür gefunden, wie Komposition und Improvisation ineins fallen – wenn er auch dabei den Geniekult an der eigenen Person nicht abgelehnt hat, ähnlich übrigens wie Bert Brecht, wenn auch politisch und weltanschaulich völlig anders orientiert).

Musik gefällt mir eben und ich bin keck genug, das – mein Gefallen, mein ästhetisches Vergnügen – zu einem allgemeinen Qualitätskriterium zu machen, wenn diese Klarheit und Schönheit sowohl das Gemüt, die emotionale Seite, als auch den Intellekt, die analytische Seite, gleichermaßen ansprechen.

Ein allgemeines Kriterium guter Musik ist für mich, wenn dieses Ansprechen oder Berühren dadurch geglückt ist, dass beide Facetten einander durchdringen, sich vermischen, untrennbar werden. Wenn etwa das Erkennen von Strukturen, musikalischen und außermusikalischen, erzählerischen, ein Glücksgefühl auslöst, das in dem Glücksgefühl aufgeht, das von reinem Hören des Klangs, der Melodie ebenso ausgelöst wird. Wenn intellektuelle und emotionale Aufnahme der Komposition nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Wenn Erkennen und Erleben das Gleiche werden.

Das sollte dann dazu führen, dass die, die allem Anschein nach nur passiv zuhören, plötzlich aktiv am Geschehen beteilgt sind: durch das Aufnehmen der Musik im Augenblick des Zuhörens und durch die Vorleistung der theoretischen Beschäftigung. Das kann das Notenlesen oder das Lesen der Partitur meinen, das kann den Vergleich mit anderen KomponistInnen und InterpretInnen meinen, das kann auch die eigenen Liebhaberein und amateurhaften oder professionellen Hervorbringungen meinen. Jedenfalls wird hier der Musikgenuss zu einer aktiven Angelegenheit, an der dann die Qualität der Darbietung sich messen lassen muss. Das geht aber über journalistische Konzertkritik und über small talk beim Essen nach der Aufführung weit hinaus.

In diesem Sinne wünsche ich, um es mit John Cage zu sagen, „Happy New Ears“!